Das "Sonderarchiv" beim Staatlichen Militärarchiv Moskau




Das Ende eines kurzen Frühlings.
Sowjetische Reprisen statt wissenschaftlicher Freiheit: Rußland erschwert den Zugang zu seinen Archiven. Von Thomas Thiemeyer

Süddeutsche Zeitung, Freitag, 3. Mai 2002, S. 19 (Feuilleton)

In elf Mappen hatte Boris Jelzin am 16. April 1997 Geschichte verschenkt. Der russische Präsident überreichte dem deutschen Kanzler Helmut Kohl Teile des Moskauer Nachlasses von Walther Rathenau - genau 75 Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrages von Rapallo, mit dem Deutschland und Russland 1922 ihr Verhältnis neu regelten. Rathenau war seinerzeit Außenminister und treibende Kraft hinter dem Vertrag. Das Präsent Jelzins rückte russisches Beutegut in den Mittelpunkt, das ansonsten im Schatten der Kunstschätze steht: Beute-Akten. Tatsächlich sei das Geschenk Jelzins nicht mehr als "eine Winzigkeit" gewesen, sagt Rathenau-Forscher Wolfgang Michalka. Der Historiker hatte Anfang der 90er Jahre den bis dato verschollenen Nachlaß bearbeitet und Einblick in den gesamten Rathenau- Bestand in Moskau erhalten.
Die Rathenau-Akten sind nur ein Bruchteil dessen, was an Beute-Akten in russischen Archiven lagert. Sie waren Teil eines geheimen Sonderarchivs, das im August 1991 nach dem misßlungenen Putsch gegen Gorbatschow geöffnet wurde. Vor allem für deutsche Historiker erwies sich dieses Archiv als Fundgrube, da es etliche Akten und Dokumente der Nationalsozialisten barg.
Abgesehen von den Beute-Akten sind die Bestände der russischen Archive für die deutsche Historiographie mit Blick auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg einschließlich der Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher vor sowjetischen Militärgerichten bedeutend. Der Fund des Sonderarchivs und die veränderte politische Lage haben das Interesse an ihnen sprunghaft wachsen lassen. Im kommenden Jahr soll nun ein Deutsches Historisches Institut in Moskau entstehen (SZ vom 18. April).
Die große Öffnung der russischen Archive ist freilich schon wieder vorüber. "Zwischen 1991 und 1993 bestand die bislang beste Gelegenheit, Zugang zu ihnen zu bekommen", sagt Sergej Slutsch, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Slawenkunde an der Akademie der Wissenschaften Rusßlands. Damals taumelte das Land in quasi-anarchische Zustände. So verdankte es Michalka der damals günstigen Situation, weit reichende Einblicke in den Rathenau-Nachlaß erhalten und ihn kopiert zu haben. Heute, sagt er, sei das nicht mehr möglich. Aus Moskau berichtet Slutsch, daß Archivalien, die bereits zugänglich waren, wieder gesperrt sind. Ein präziser Mechanismus, nach dem Archivunterlagen freigegeben werden, existiere nicht.
Längst nicht alle Archive in Rußland unterstehen dem staatlichen Archivdienst, sondern sind als Behördenarchive vor allem an die "inneren Instruktionen" ihrer Bürokraten gebunden. Zu diesen gehören die Archive des Innen-, Außen- und Verteidigungsministeriums, das Archiv des Präsidenten und das Archiv des ehemaligen KGB. Während die Arbeit in den Einrichtungen des staatlichen Archivdienstes, darunter das wichtige Staatsarchiv meist problemlos funktioniert, sind für den Zugang zu den Behördenarchiven persönliche Kontakte wichtig. Um Akten aus den Beständen des Außenministeriums zu bekommen, seien "gute Beziehungen auf höherer Ebene hilfreich", bestätigt Andreas Hilger vom Hannah-Arendt-Institut.
Jeder Historiker muß in einem förmlichen Antrag, in dem er das Thema seiner Arbeit nennt und das Institut, für das er arbeitet, um Archivalien bitten. Welche Materialien ihm dann ausgehändigt werden, entscheidet die Archivleitung. "Man weiß also nie, welche anderen Dokumenten es noch gibt", sagt Hilger.
Geschichtsklitterung vermutet Slutsch hinter derlei Geheimniskrämerei und fühlt sich an alte Sowjetzeiten erinnert. Vor einem Jahr habe Präsident Putin die Historiker des Landes zu wohlwollender Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit angehalten, und der Zugang zu brisantem Archiv-Material sei für russische Forscher wieder risikoreich: "Der Inhaber einer Zugangs-Zulassung zu angeblich geheimen Unterlagen wird automatisch zum Geheimnisträger. In der Sowjetzeit bedeutete dieser Status sofort ein Reiseverbot. In Rußland ist dies vorerst noch nicht der Fall, aber wer weiß, wie sich die Situation weiter entwickeln wird?"